Man hätte meinen können, dass die Corona-Pandemie dafür gesorgt hat, dass wieder mehr gelesen wurde. Schließlich lagen viele Möglichkeiten der Freizeitgestaltung vorübergehend brach. In den harten Lockdown gab es Zeit und Muße für ein entspanntes Lesen auf der Couch. Doch davon kann keine Rede sein. Unabhängig von den Zahlen der Buchbranche und den verkauften Tickets für eine der beiden Buchmessen gibt es alarmierende Beobachtungen bezüglich des Bildungsfaktors „Lesen“ in Deutschland.
Die Anzahl der öffentlichen Bibliotheken hat sich von 2012 (10200) bis 2022 (8850) deutlich verringert. [1] Das ist besonders bezeichnend, da mit dem demografischen Wandel die „Lesegeneration“ älter und aktiver bleibt.
Insgesamt ist in Deutschland die Zahl derer, die seltener als einmal im Monat ein Buch lesen, auf mehr als 30 Millionen Menschen angestiegen. [2]
Auch als Informationsträger sind Bibliotheken nicht ohne Konkurrenz. Reine Informationen suchen mehr als 77 Prozent der Personen ab 14 Jahren im Internet, mehr als 79 Prozent im persönlichen Umfeld. Dürfen wir davon ausgehen, dass Bibliotheken mindestens mittelfristig von der Bildfläche verschwinden? [3]
Wenn es nach dem Deutschen Bibliotheksverband e.V. (dbv) geht, passiert das nicht. Hier wurde 2021 das Positionspapier „Bibliotheken als starke Vermittler für Bildung und Kultur in Städten und Gemeinden – Leitlinien und Hinweise zur Weiterentwicklung öffentlicher Bibliotheken“ herausgebracht. [4] Vermittler von Bildung und Kultur zu sein ist ein Anspruch, der nur gelingt, wenn die Bürgerinnen und Bürger erreicht werden. Die Zahlen zeigen ein anderes Bild.
Die Enquete-Kommission Des Deutschen Bundestages „Kultur in Deutschland“ stellte 2007 die folgenden Worte an den Anfang der Ergebnisse:
„Kultur ist kein Ornament. Sie ist das Fundament,
auf dem unsere Gesellschaft steht und auf das sie baut.
Es ist Aufgabe der Politik, dieses zu sichern und zu stärken.“ [5]
Im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung heißt es, dass Kultur gefördert wird. Hier werden Schwerpunkte auf Digitalisierung und Absicherung von Künstlerinnen und Künstlern angesprochen. Ein „Plenum der Kultur“ sollte für kulturelle Fragen gegründet werden. [6]Auf Nachfrage nach diesem Plenum antwortete Claudia Roth am 6. Juli 2022, dass bereits ein Dialog gestartet sei. Themen wie Popkultur und soziale Lage etc. sollten Gegenstand der vorbereitenden Gespräche sein. [7]
Kultur ist inzwischen ein Begriff, der einerseits viele verschiedene Bedeutungen hat und stark überstrapaziert wird. Wir sprechen von Alltagskultur, Unternehmenskultur, Willkommenskultur. Gleichzeitig gibt es den normativen Kulturbegriff, der Kulturformen auf- und abwertet. Dieser normative Kulturbegriff ist nicht zu vermeiden, wenn Kultur von wirtschaftlichen oder politischen Entscheidern abhängt. Allein durch Förderungen werden Entscheidungen zugunsten oder entgegen bestimmter Kulturaspekte getroffen. Aus diesem Grund ist die politische Absicht, freie Kunst und Kultur zu fördern, in der Praxis nicht umsetzbar.
Der Kulturbegriff der UNESCO darf als relevant betrachtet werden:
„Die Kultur kann in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schliesst nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen.“ [8]
In diesem Sinne sind Bibliotheken Träger der Kultur. In Büchern und anderen Medien werden Hinweise auf die Kultur einer Gesellschaft sichtbar. Hier wird nicht nur Literatur. Jede Publikation enthält auch Hinweise auf die beschriebene Gruppe der Akteure und damit auf den kulturellen Kontext. Bücher können dabei in jeder Form genutzt werden, also als Hörbuch, digitales Buch oder als physisches Produkt. Hat das Bibliothekswesen den Trend zu den Online-Medien verpasst. Nach eigenen Aussagen des dbv bietet inzwischen fast jede zweite öffentliche Bibliothek online-Medien an. [9]
Das physische Buch ist auf dem Rückzug. Der Buchhandel begegnet diesem Phänomen mit sinnentleerten Verkaufsstrategien wie etwa BookTok. Das ist eine sehr clevere Marketingstrategie, doch wer sich die zahlreichen sogenannten Buchempfehlungen anschaut, wird schnell an Marketing für physische Gegenstände erinnert, statt ein Gefühl für das Buch als Kulturträger zu haben. Da geht es um die Farbe des Einband, die gut zur Einrichtung passt. Es geht um Lesewettbewerbe und um Spiel und Spaß. Das Buch als Spielzeug. Nicht nur, aber immer mehr. Lesen ist ein Wegbereiter für den Dialog. Bürgerinnen und Bürger, die sich über Bücher austauschen, formen und entwickeln Kultur.
Unsere Kultur steht aktuell in der Gefahr, Buch und Kultur zu trennen. Ein Buch ist zunehmend mehr ein Gegenstand, Kultur wird zum Narrativ der Fördergeldgeber. Es besteht die Gefahr, dass die Fähigkeit, Kulturträger wie etwa Bücher zu erkennen, verloren geht. Das ist auch zu erkennen an Bildungsangeboten, wie etwa, ein Buch gemeinsam zu lesen. Dieses Buch ist allerdings eine Überraschung, dass alle Teilnehmerinnen an der Aktion gemeinsam beim ortsnahen Buchhandel bestellen. Auf dem Programm, in dessen Rahmen die Veranstaltung angeboten wird, findet sich ein Hinweis auf die Förderung der Ländlichen Erwachsenenbildung. Wenn Angebote wie dieses, BookTok und ähnliche Marketing Instrumente sich vor die Kultur des Buches schieben, wird es bald nur noch „Table Books“, also Bücher zu Dekozwecken geben.
Bibliotheken könnten entgegenwirken und sich als Kultur-Vermittler positionieren. Das muss nicht staubig oder flüsternd sein. Die Zielgruppe ist vorhanden, doch die Bibliotheken scheinen sie nicht zu suchen, das Book-Marketing hat hier die Nase vorn. Doch Kultur ist ein Entwicklungs-im besten Fall gesellschaftlicher Wachstumsprozess. Der Spot auf Trends und Verkaufszahlen kann dem Anspruch und der Bedeutung nicht gerecht werden.